Kann Tanz einen Liederabend bereichern, eine zusätzliche, szenische Ausdrucksebene schaffen? Robert North, inspiriert von Thema und emotionaler Tiefe der Winterreise, nimmt sich der Aufgabe an, diesen Zyklus tänzerisch auszudeuten und assoziative Bilder erstehen zu lassen.
Franz Schubert präsentierte seinen Freunden im Herbst 1827 einen „Kreis schauriger Lieder“ nach Gedichten von Wilhelm Müller: Die Winterreise.
Schubert fühlte sich von der Dichtung Müllers, seines von den Romantikern beeinflussten Zeitgenossen, unmittelbar angesprochen. Zentrale Figur ist ein Wanderer, der nach enttäuschter Liebe ziel- und hoffnungslos in die Winternacht hinauszieht – ein Sujet, das über das persönliche Schicksal hinausweist: Winter als Metapher für Restauration, für Erstarrung, Einsamkeit und den existentiellen Schmerz des Menschen. Das Motiv des Todes und der Todessehnsucht durchzieht unterschwellig den gesamten Zyklus und mündet im Schlusslied „Der Leiermann“.
Mit: Rafael Bruck (Gesang), André Parfenov (Klavier) und Mitgliedern des Ballettensembles
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus
Wilhelm Müller
Eine kongeniale „Winterreise“
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Bejubelte Produktion am Theater Krefeld lässt Ballett und Liederabend zu einem kondensierten Gesamtkunstwerk werden (…) Kraftvoller Applaus, etliche Standing Ovations und Begeisterungsbekundungen dankten für einen Abend, der gerade dadurch so hineinziehend ist, dass er im Grunde ganz reduziert ist. (…) Mehrfache Beziehungen zwischen Musik, Gesang und Tanz Des Pudels Kern ist dreierlei. Die Musik, der Liederzyklus „Winterreise“ D 911 von Franz Schubert, die Interpretation durch Bariton Rafael Bruck gemeinsam mit Pianist André Parfenov und der dazu von Ballettdirektor Robert North choreografierte Tanz. Der Liederabend – Bruck und Parfenov sind auch kostümiert – spielt sich im vorderen Teil der Bühne, im halb hochgefahrenen Orchestergraben-Bereich ab. Das Ballett erobert den Bühnenraum – dazwischen eine enge Beziehung, die sich auf unterschiedliche Art auszudrücken vermag. (…) Bei der Pianist und Sänger wie ein Wanderer und sein Schatten durch immer zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Erstarrung und Versuch der Aufbäumung gekennzeichnete Stationen ziehen. Auf der Bühne erleben wir eine weitere Beziehung zwischen Wanderer und Schatten, zwischen negativen und lebensbejahenden Kräften. Bruck als Sänger, vielleicht als Dichter oder Komponist am Tisch sitzend und auch mal schreibend, dann wieder stehend, wird gespiegelt, identisch gekleidet, von seinem Ebenbild. „Der Fremde“, der unglücklich Verliebte (…) wird getanzt von Alssandro Borghesani. Immer wieder zwischen Schmerz, Haltung, Hoffnung, Niederschmettern und Aufrichten. North nutzt sein oft mit Sprüngen und Drehungen sprechendes Repertoire – dies passt bisweilen sehr gut. (…) Was aber North perfekt gelingt, auch im Zusammenspiel mit der Musik, ist eine Stimmung, eine Poesie zu evozieren, die ganz von der Tanzkunst seines Ensembles lebt. Von feinen kleinen Gesten, großen pantomimischen Andeutungen oder auch nur der Beziehung zwischen zwei tanzenden Körpern, die sich auf mehrfacher Ebene mit Geist füllend zu einem Kommentar zur musikalisch-textlichen Ebene werden. Dem Protagonisten, dem „Fremden“ sind zur Seite gestellt die „Geliebte“, die unerreichbare, verlorene, die angebetete, die Hoffnung spendende, und ein wunderbar – kraftvoll und auch mal dunkel – getanztes „Doppelgänger“-Paar (Marco A. Carlucci und Teresa Levrini). (…) Die Geliebte wird auf schöne Weise von Flávia Harada getanzt, deren Bewegungen gerne eine mystische Tiefe mit-tragend ein perfektes Beispiel für ästhetische Schichten in der Kunstform des Balletts sind. (…) Gerade diese Produktion (…) braucht auch ein aufmerksames Publikum, das mehrere hermeneutische Schichten aufnimmt und als Ganzes auf sich wirken lässt. Und das Krefelder Publikum kann und will das. Das spürt man. Ein Liederabend mit Ballett? Mehr eine perfekte Mischung, die 75 Minuten in eine kalte, melancholische, aber teilweise auch hoffnungsvolle Welt („Natur“ und „Hoffnung“ schön getanzt von Julianne Cederstam und Alice Franchini) entführt. (…)
Christian Oscar Gazsi Laki, Westdeutsche Zeitung vom 22. November 2021 -
Die Winterreise umfasst 24 Lieder, in denen das lyrische Ich seine seelischen Zustände während einer einsamen Wanderung beschreibt, durchzogen von Todesahnung. (…) Um dieses romantische Werk tänzerisch darzustellen, lässt die Choreografie den „Fremden“ (Alessandro Borghesani) und seinen „Doppelgänger“ (Marco A. Carlucci) tanzen. Letzterer in einem dunkelblauen Gewand. Beim sehr gelungenen Pas de deux der beiden Männer ist der eine Schatten des anderen. Der Fremde wiederum trägt dieselbe Kleidung wie der herausragende Sänger des Abends (Rafael Bruck): Frühes 19. Jahrhundert – so könnte auch Schubert sich gekleidet haben. Die Geliebte (Flávia Harada) bewegt sich in flammendem Rot als unerreichbare und immer wieder entweichende Geliebte. Julianne Cederstam und Alice Franchini verkörpern in Hellgrün und lichtem Blau Natur und Hoffnung zu den eher heiteren musikalischen Partien. Die „Lebensfrohe“ tanzt Teresa Levrini. Mit diesen konkreten Figuren hat Robert North sich den Stoff auf eine überraschende Weise anverwandelt. (…) Das Herz der Aufführung allerdings ist der Gesang von Bariton Rafael Bruck, vortrefflich begleitet vom Pianisten André Parfenov. (…) Bruck meistert die Stimmungen des Liederzyklus auf eindrucksvolle Weise. Sein Gesang enthält die gesamte Melancholie der Winterreise und überträgt den Weltschmerz auf den Zuhörer. Das ist besonders eindringlich, wenn ihm die Bühne allein gehört. (…)
Christina Schulte, Rheinische Post vom 22. November 2021 -
(…) Der große Erfolg des Werkes über so viele Jahre hinweg liegt sicherlich auch in der ebenso schönen wie tiefgründigen Musik begründet, die Schubert für einen Sänger und einen Pianisten schuf. In Krefeld harmonieren hier Rafael Bruck und André Parfenov am Flügel ganz wunderbar, so dass sich Gesang und Musik poetisch ergänzen. Ergänzt wird die Darbietung darüber hinaus durch Choreografien von Ballettdirektor Robert North, dem es hierbei gelingt, die Gedanken des Wanderers zu begleiten und bildlich darzustellen, ohne das Stück zu überfrachten. Immer wieder gibt es Stellen, in denen die Bühne leer bleibt bzw. in denen lediglich Bildfahnen und Lichtstimmungen Brucks Gesang untermalen. Sehr schön auch, wie durch die identischen Kostüme von Sänger und Tänzer gleich zu Beginn klar wird, dass wir uns hier in der Gedankenwelt des Sängers befinden. Hin und wieder interagieren diese Ebenen miteinander. (…) Ganz wunderbar auch die Kostüme und die Gestaltung des Bühnenraums von Udo Hesse, die geradezu zum Träumen anregt. (…)
Markus Lamers, Der Opernfreund vom 21. November 2021