Heiner Müller übersetzte 1983 Shakespeares frühe Römertragödie „Titus Andronicus“. Aus der Titus-Übersetzung wurde ein eigenes Stück, uraufgeführt 1985 in Bochum, das stark verdichtet Shakespeares Stück enthält sowie hineinmontierte „Kommentar“-Passagen
von Müller: Ein Shakespearekommentar.
Das Stück handelt vom Fall of Rome, dem Untergang des römischen Reichs im Kampf gegen die „Barbaren“. Heiner Müller hebt besonders den bei Shakespeare angedeuteten Nord-Süd-Konflikt hervor und untersucht die Anatomie der Shakespeareschen Vorlage. Bei Müller wie bei Shakespeare geht es um den Zusammenprall von Machtzentrum und Peripherie, von „Zivilisation“ und „Barbarei“ – mit dem Clou, dass von Beginn an sich die Frage stellt, wer hier was vertritt. Denn der siegreiche General Titus des zivilisierten Roms wird schon in der ersten Szene als mitleidloser Mörder vorgeführt.
Maya Zbib, Mitgründerin des Zoukak Theatre in Beirut, hat am Gemeinschaftstheater bereits Ein Gedächtnis für das Vergessen (2013/14) inszeniert. Aus ihrer besonderen Perspektive interpretiert sie Anatomie Titus Fall of Rome mit dem hiesigen Schauspielensemble, ein Stück „über ein System, das seine Kinder frisst“, wie sie sagt.
Rache bis zuletzt
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„Anatomie Titus Fall of Rome“ nach Heiner Müller basiert auf Shakespeares blutrünstigstem Drama. Neben sinnloser Gewalt thematisiert das Stück, jetzt im Theater zu sehen, Gender- und Rassismusdebatten. Nichts für schwache Nerven. […] Lyriker T.S. Elliot beschrieb „Titus Andronicus“ einmal als eines der dümmsten jemals geschriebenen Theaterstücke. Den Figuren fehlt die Tiefe, sprachlich ist es nicht mit anderen Shakespeare-Stücken vergleichbar und die Handlung ist ziemlich krude: Nach einem Feldzug tötet Titus den ältesten Sohn der Gotenkönigin Tamora. Sie möchte sich an ihm rächen und beauftragt ihre anderen beiden Söhne, Titus‘ Tochter Lavinia zu misshandeln. Damit sie nicht verraten werden, schneiden sie ihr Zunge und Hände ab. Daraufhin rächt sich Titus, indem er die Brüder tötet, aus ihnen eine Pastete zubereitet und es die Mutter essen lässt. Es folgt ein Gemetzel. […] Es geht um Gewalt, Gewalt und noch mehr Gewalt. Das Theater zeigt „Anatomie Titus Fall of Rome“ in einer Inszenierung der libanesischen Regisseurin Maya Zbib. 2016 stieß sie zum ersten Mal auf „TitusAndronicus“, als sie an einer Inszenierung arbeitete, die auf der Grundlage mehrerer Shakespeare- Stücke entstand. Die brutale Gewalt des Stückes erinnerte sie an das, was sie täglich in den Nachrichten sah und las. „Es war die Zeit, in der der IS mächtig geworden war“, sagt sie. Sechs Jahre später hat das Stück an Relevanz gewonnen: Die Explosion des Hafens in Beirut, die Wirtschaftskrise im Libanon, die ständige Angst vor einem Bürgerkrieg: „Die Gewalt und der Terror nehmen kein Ende“, so die in Beirut lebende Regisseurin. Da sie das Stück auf einer deutschen Bühne inszenierte, entschied sie sich für Heiner Müllers Kommentar. „Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten“, hat der Dramatiker mal gesagt. Und ein Stück, das einem den Spiegel vorhält, ist keines, das leicht anzuschauen ist […]. Was auf der Bühne passiert, ist ziemlich brutal, obwohl verhältnismäßig wenig Theaterblut fließt und Gewalt gar nicht explizit gezeigt, sondern nur angedeutet wird. Vielleicht ist es aber auch gerade deswegen so schwer, hinzuschauen. Das betrifft vor allem den Handlungsstrang um Lavinia, eindrucksvoll gespielt von Mattea Cavic: Man wünscht sich, dass ihre Schändung endlich vorbei ist, dass ihr Wimmern endlich leiser wird, dass ihre Beine endlich aufhören zu zittern. Auch als Tamora (Jannike Schubert) am Ende ihre beiden Söhne verspeist und weitermacht, als sie darum weiß, ist der Ekel kaum aushaltbar. Diese Gefühle sind wichtig. Denn man ertappt sich schnell dabei, die sinnlose Gewalt des Stückes in die Vergangenheit zu verfrachten, als hätte es barbarische Traditionen nur im 16. Jahrhundert gegeben. Zbib lässt das Publikum die latente Anwesenheit von Gewalt spüren, um zu zeigen, dass sie immer noch da ist — und wir keinen Deut besser sind als die „Barbaren“ zu Shakespeare- Zeiten. Zbib zeigt nicht nur die Aktualität sinnloser Gewalt auf, sie holt das Stück auch in unsere Zeit, indem sie Müllers Kommentar kommentiert und sich mit Rassismus- und Genderfragen auseinandersetzt. Die Rolle des Aaron etwa wird von Eva Spott gespielt. Der Charakter mit dem jüdischen Namen ist schwarz, deswegen wird er laufend diskriminiert. Er ist „der Andere“, daran hat sich in den vergangenen Jahrhunderten auch nicht viel geändert. Blackfacing, also das Dunkelschminken weißer Menschen, ist am Theater kein Thema mehr. Doch in einem Exkurs erinnert Eva Spott daran, dass es früher mal so war — sie hat es noch miterlebt. Dieser Theaterabend ist kein Spaziergang, eher eine schwere Bergwanderung. Aber die belohnen bekanntlich mit dem besten Ausblick.
RP Mönchengladbach, 31.01.2022, Danina Esau Zum Beitrag