Wahida, arabischstämmige Amerikanerin, und Eitan, in Berlin geborener Genforscher mit jüdischen Wurzeln, begegnen sich in einer New Yorker Bibliothek und verlieben sich ineinander. Für Eitans religiösfanatischen Vater David ist diese Beziehung inakzeptabel, sieht er doch seine ferne Heimat Israel von der arabischen Welt massiv bedroht.
Auf der Suche nach seinen Wurzeln reist Eitan mit seiner Freundin nach Jerusalem. Hier wird sich Wahida ihrer bisher verleugneten arabischen Identität bewusst. Und Eitan erfährt von seiner Großmutter ein gut gehütetes Geheimnis, das jegliche Gewissheit über Religion, Kultur und Identität der Familienmitglieder in Frage stellt.
Mit der Wucht einer antiken Tragödie erzählt der 1968 im Libanon geborene frankokanadische Autor und Regisseur Wajdi Mouawad in Vögel klug und berührend von Liebe, Gewalt, individuellen Schicksalen und familiären Konflikten vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts.
Bitte beachten Sie dazu unsere Reihe von Zusatzveranstaltungen im April, Mai und Juni.
Die ersten beiden finden am 4. und 6. April 2023 in der Theaterbar (Parkseite) des Theaters Mönchengladbach statt. Am 26. Mai folgt das dritte Publikumsgespräch.
“Toleranz und Vernunft?”
Ein Gespräch mit dem Publikum über „Vögel“ und „Nathan der Weise“.
Unmittelbar nach einer Vorstellung von “Vögel” laden Sie Dramaturg Thomas Blockhaus und einige Ensemblemitglieder zu einem spontanen Gedankenaustausch ein. Was bewegt Sie, während Sie den Zuschauerraum verlassen, wie wirkt das eben Erlebte nach? Was denken Sie darüber? Und was wollten Sie uns Theaterleute immer schon fragen?
Lassen Sie uns ins Gespräch kommen über Toleranz, Vernunft und Gott und die Welt. Wobei Sie auch gerne Ihre Eindrücke von „Nathan der Weise“ mitteilen können.
Wir freuen uns auf Sie.
Der Eintritt ist frei.
Gewalt macht selbst Wahrheit zu einer tödlichen Waffe
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[…] „Vögel“ [spielt] vor der Folie der Nahost-Konflikte, dieses Mal steht die Feindschaft zwischen Israel und Palästina im Fokus. Unbeschwert bleibt so nur der Anfang des mit Rückblenden und Plot-Twists filmisch gebauten Stücks. Eitan Zimmermann, Berliner Jude, lernt in einer New Yorker Bibliothek Wahida kennen, Amerikanerin mit palästinensischen Wurzeln. Die jungen Akademiker verlieben sich ineinander […]. Die Frage nach der Identität spielt eine große Rolle. Liegt sie etwa schon in den Genen, bleibt man ein Gefangener seiner Herkunft? Der Biologe Eitan glaubt das nicht, sein Vater David aber schon. Allein deshalb lehnt er die Verbindung Eitans mit Wahida vehement ab. Seine Herkunft bedeutet für David, die jüdische Tradition zu bewahren und die Erinnerung an die von den Nazis umgebrachten Juden aufrechtzuerhalten. Identität ist für ihn schwerwiegende Verantwortung. Dass sein eigener Vater Etgar, Überlebender des Holocaust, das anders sieht, kümmert ihn ebenso wenig wie die biologische Perspektive seines Sohnes. Gabriele Trinczek hat für das Stück einen neutralen Raum geschaffen. Gaze-Vorhänge dienen Projektionen, schnell abräumbares Mobiliar hilft, die Szenen zu bauen. Die Kostüme (Petra Wilke) skizzieren leichthändig die Personen. Gehrts Regie schafft es gekonnt, die filmische Konstruktion des Stoffs umzusetzen: mit präzise gesetzten Schnitten und eleganten Überblendungen, die die Handlung flüssig vorantreiben. Katharina Kurschat gibt der Wahida glaubhaft jugendliche Kraft mit auf den Weg […]. Einen berührenden Moment erschafft Joachim Henschke als Etgar, wenn er David über seine Herkunft aufklärt. Großmutter Leah wird von Monika Lennartz unaufgeregt mit kratzbürstigem Charme ausgestattet. Esther Keil nimmt man die Zerrissenheit Norahs, die die Loyalität für ihren Mann und die Liebe zu ihrem Sohn nicht übereinander bringen kann, gerade deshalb ab, weil sie sich durch ihr Rollendilemma nicht in eine überspitzte Darstellung treiben lässt. […] Unter den Vorzeichen der Gewalt verlieren die Menschen die Macht über ihr Schicksal, treffen falsche Entscheidungen, gehen falsche Wege. So kann selbst die Wahrheit tödliche Folgen haben. […] Regisseur Gehrt gelingt eine Inszenierung, in deren besten Momenten die Menschen hinter dem großen Drama zum Vorschein kommen. Das Publikum spendete stehende Ovationen.
WZ Krefeld, Klaus M. Schmidt, 7. Juni 2022
Stairway to where?
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In der Mitte der Bühne (Gabriele Trinczek) ragt eine Leiter in die Höhe. Sie wird in der Krefelder Inszenierung von Wajdi Mouawads „Vögel“ nur einmal bespielt. Kurz nachdem sich Eitan (David Kösters) und Wahida (Katharina Kurschat) in einer New Yorker Bibliothek kennengelernt haben, tanzen sie frisch verliebt in einem Club um die Leiter herum […]. In den folgenden zweieinhalb Stunden spielt die Himmelsleiter keine Rolle mehr – und doch bleibt sie ein starkes Zeichen für ungenutzte Auswege aus dem irdischen Klein-Klein von Hass, Misstrauen und der Unfähigkeit zu ehrlichen Neuanfängen. Das Drama des gebürtigen Libanesen Wajdi Mouawad verbindet mit geschickter Seriendramaturgie die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts mit einer jüdischen Familie. Eitans Großmutter wird von Monika Lennartz schlagfertig, kratzbürstig und zugleich sensibel gespielt. Der Gast aus Berlin nutzt in einem bemerkenswert ausgeglichenen Ensemble die Rolle am Rande der Familie für so intensives wie leichtfüßiges Spiel. An ihrer Seite spielt der langjährige lokale Star Joachim Henschke zum Ende seiner Krefelder Karriere ihren ehemaligen Mann als einen Fels in der Brandung, den so leicht nichts aus der Fassung bringt. […] All das ist glänzend in Dialoge gefasst, allerdings überlädt „Vögel“ […] die Figuren nicht nur an dieser Stelle ein wenig mit der realen konfliktreichen Geschichte im Nahen Osten samt Vorgeschichte im Holocaust. Im zweiten Teil wirken die Personen auf der Krefelder Bühne vor den Bildern von Kriegsopfern dann nicht nur optisch zuweilen etwas klein. Insgesamt gelingt dem scheidenden Schauspieldirektor Matthias Gehrt jedoch eine überzeugende Abschiedsinszenierung. Nicht nur wegen der ukrainischen Schauspielerin Kateryna Nazemtseva in der Rolle der Krankenschwester und des aus Syrien stammenden Raafat Daboul als dem arabischen Gelehrten Al-Hasan Al Waazan, einem kulturellen Grenzgänger im 15. Jahrhundert, ist die Aktualität dieses Dramas um Gewalt zwischen Völkern und Kulturen schlagend. Die Inszenierung ist ein würdiger Abschluss einer Schauspieldirektion, die den Blick des Schauspiels in Krefeld und Mönchengladbach seit vielen Jahren auch in Richtung außereuropäischen Theaters öffnet. […]
Die deutsche Bühne, Detlev Baur
Die Liebe in den Zeiten des Krieges
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46 Chromosomen – das ist die Antwort des Biogenetikers Eitan auf die wesentlichen Fragen: Was ist die Seele? Was ist das Leben? […] Dass dies nur Theorie ist, wird der junge Mann bald spüren. In der Uni-Bibliothek verliebt er sich in Wahida. Sie ist jung, kess, hat blaue Haare und trägt Netzstrümpfe – und sie ist Araberin. Für den jungen Juden ist das zunächst kein Problem. […]Als Eitan seine Familie – aus Deutschland – zum Pessachfest einlädt, um ihnen seine Freundin vorzustellen, zeigt sich eine Katastrophe, die sich über Jahrzehnte angebahnt hat[…] In seinem Stück „Vögel“ zeigt Wajdi Mouawad den Zerfall einer Familie, die ein schreckliches Geheimnis schon längst zerfressen hat. Es geht um den Nahost-Konflikt, um Juden und Muslime, um Israelis und Palästinenser — es geht um Krieg. Matthias Gehrt hat die erschütternde Geschichte nicht auf aktuelle Entwicklungen gedreht, sondern das Psychodrama einer Familie inszeniert: die Tragödie einer verbotenen Liebe und die Tragödie, wenn Menschlichkeit von Fanatismus und Hass überwuchert wird. […] Für seine letzte Regie als Schauspieldirektor am Gemeinschaftstheater wurde Gehrt mit standing ovations gefeiert – der lange Beifall galt auch dem gesamten Team und einem grandios differenziert spielenden Ensemble. […]Gabriele Trinczek hat die karg möblierte Bühne mit halbtransparenten Projektionsflächen zu einem Raum gemacht, der Schreckensbilder von Anschlägen widergibt, die Umgebung spiegelt und zeigt, wie viel hier verschleiert werden soll. Die geheimnisvolle Bühnenmusik von York Ostermayer betont die Spannungen, lässt Sirenenalarm anklingen. Man vermutet Schreckliches – wie feinnervig die Schauspielerinnen und Schauspieler Steinchen lostreten, die sich zu einer emotionalen Lawine auswachsen, ist grandios. Die Kostüme von Petra Wilke zeigen dezent, in welch unterschiedlichen Welten die Generationen leben […] assimilierte Lebenswelten. […] Eitan (David Kösters) ringt verzweifelt um Verständnis und Toleranz. […] Seine Mutter (Esther Keil) hat eine DDR-Vergangenheit und ist eine aalglatte Verfechterin ihrer Überzeugung […] Sein Vater David (Christoph Hohmann) glaubt an seine Grundsätze, […] er scheint unerschütterlich in seinen Glaubensfesten. […] Die Wahrheit tickt wie eine Bombe im Herzen der Großmutter Leah (Monika Lennartz). Das Leben hat sie bitter gemacht. […] Die Szenen mit Henschke haben die Wucht einer antiken Tragödie. Katharina Kurschat ist eine leidenschaftlich hadernde Wahida […].
Rheinische Post Krefeld, Petra Diederichs, 7. Juni 2022
Das Familiendrama „Vögel“ geht unter die Haut
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Zu Matthias Gehrts Inszenierung von Wajdi Mouawads „Vögel“ entfaltet das Theaterensemble im packenden Spiel ein erschütterndes Familiendrama vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts. Das Stück des im Libanon geborenen frankokanadischen Autors thematisiert unauflösbare Familienbande in Verbindung mit Fragen zur kulturellen und genetischen Herkunft. (…) Die darstellerischen Leistungen der Akteure sind hervorragend und eingebunden in ein dichtes Ensemblespiel, das emotional aufgeladen ist, erschütternd und zutiefst berührend. Katharina Kurschat mimt ausdrucksstark Wahidas emotionale Entwicklung – ihre Liebe zu Eitan, die Erschütterung über die Ereignisse, die Suche nach der eigenen Identität. Die Inszenierung gönnt sich Zeit für unendlich berührende Momente der Zwiesprache, wie in der gestisch verhaltenen Annäherung zwischen Wahida und der Soldatin (Nele Jung), die ihr zuvor Unrecht zufügte. (…)
Rheinische Post Mönchengladbach, Angela Wilms-Adrians, 6. April 2023