Wenn Carolin 3 Äpfel hat und Luise hat 3 Äpfel, wie viele Orangen hat dann Sabine?
Was auf den ersten Blick an eine unschuldige Textaufgabe aus der Grundschulzeit erinnert, verwandelt sich mit allen kommenden Fragen – und es werden viele sein – in pures Grauen: In Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino reanimiert der britische Dramatiker Martin Crimp Euripides‘ Drama Die Phönizierinnen, die Tragödie um Ödipus und seine Söhne Eteokles und Polyneikes und deren erbarmungslosen Krieg um Theben. Ein Staat sei nun mal keine Tafel Schokolade, die man einfach so teile. Das kann auch „Mami“ Iokaste nicht ändern. Nur die Fragen werden mehr. Lautet die Antwort auf Unrecht immer Gewalt? Wiegen die Äpfel absoluter Macht mehr als die Orangen internationaler Allianzen? Kennen wir wirklich alles Weitere aus dem Kino? Und wer stellt hier eigentlich die verdammt vielen Fragen?
Fotos der Wiederaufnahmeprobe: © Thomas Esser
Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien
Angela Wilms-Adrians, RP Mönchengladbach, 20. Mai 2024Premiere mit Helden und Grusel-Puppen
“Mit packender Wucht spielt das Ensemble den Kampf ums altgriechische Theben. (…) Erzählt wird der sich politisch entladende Konflikt zwischen den Brüdern Polyneikes und Eteokles, den Söhnen des Ödipus und der Iokaste, die zugleich Frau und Mutter des Ödipus ist. Eteokles verweigert den mit dem Bruder vereinbarten Machtwechsel. Der Konflikt eskaliert im grausamen Kampf um die altgriechische Stadt Theben. (…) Auf der Bühne ausgetragen werden die inneren und äußeren Konflikte der Protagonisten. Zu den wiederkehrenden Fragen zählt auch die, ob Frieden politisch verhandelbar ist. Im eindringlich gestalteten Geflecht antiker und heutiger Erzählstrukturen schafft die Inszenierung den symbolischen Brückenschlag von der antiken Tragödie bis zur aktuellen Weltlage.”
Macht, Mensch, Sprache
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Diese Aufführung ist ein weiterer Beweis für eine unwiderlegbare These: Die Antike wird auf den Bühnen einfach nicht alt. Die Verführung durch die Macht, das Ringen um eine funktionstüchtige und zukunftsfähige Form für einen Staat, die Konfrontation von politischem Handeln und persönlichem Schicksal, um die es bei Aischylos, Sophokles und Euripides geht, lassen uns offensichtlich bis heute nicht kalt. […] „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ von Martin Crimp, 2013 in Hamburg uraufgeführt und von Ulrike Syha mit tollem Gespür für Details und vor allem bühnenwirksam übersetzt, ist eine Überschreibung der „Phönizierinnen“ von Euripides. Der griechische Dramatiker gestaltet hier den kompletten Ödipus-Stoff inklusive des Gründungsmythos der Stadt Theben an einem Abend. Die durch Sophokles‘ Dramatisierungen bekannten „Ödipus“- und „Antigone“-Tragödien werden wie nebenbei abgehandelt, im Mittelpunkt steht der Bruderkrieg der „Sieben gegen Theben“. […] Crimp fasst Euripides‘ dramatischen Kommentar – die Handlung war dem damaligen Publikum bekanntlich sehr vertraut – in heutige, dennoch sehr poetische Sprache und passt die Geschichte an, wo sie in den letzten 2500 Jahren an Plausibilität verloren hat. Die größte Veränderung dabei betrifft den Chor. Besteht dieser bei Euripides aus den sein Stück betitelnden, durch den Krieg in Theben gestrandeten Frauen, also um einen Blick von außen, gibt es bei Crimp „einige Mädchen“, die sich hinterher (zumindest nach Ödipus‘ Ansicht) als eine Art Re-Inkarnation der Sphinx herausstellen. Vor allem sind sie für die „Einhaltung“ der Handlung verantwortlich. Sie treiben die Erzählung voran, wenn die Figuren abschweifen wollen, sie spinnen einen Rahmen, in dem sie mit teils absurden Fragen inhaltlich ein Gebiet abstecken und auf variantenreiche Weise heutige Vermittlungsstrategien durchdeklinieren. Es ist das große Verdienst der Inszenierung von Christoph Roos, dass diese Thematisierung der Idee der Überschreibung an sich nicht nur klar herauskommt, sondern sogar Witz entwickelt, Spaß macht und so sinnlich wie behutsam in Richtung Tanz und Gesang verlängert wird, ohne sich vor das eigentliche dramatische Geschehen zu stellen. Die Funktion dieser „Mädchen“ wird dadurch akzentuiert, dass die vier wunderbar miteinander arbeitenden Schauspielerinnen Jannike Schubert, Kateryna Nazemtseva, Esther Keil und Paula Emmerich Puppenköpfe und Puppenkleider tragen (verantwortlich für die genauen Kostüme: Dietlind Konold). Ihre „Figuren“, die gelegentlich die Masken abnehmen, stehen eben über weite Strecken außerhalb der Handlung, sind dramaturgische Steuerelemente. Geistiges High-Tech-Spielzeug des Dramatikers. […] [E]ine sehr sehenswerte Aufführung mit einer herausragenden Ensembleleistung. Sie interessiert, fasziniert das konzentrierte Publikum im vollen Theatersaal spürbar, bezieht bewusst Stellung zurzeit, in der wir leben – und lebt vor allem aus der Lust an der Sprache.
Die deutsche Bühne, 04.09.2022 Zum Beitrag